Veranstaltung: | Parteitage in Reutlingen am 7. und 8. Dezember 2024 |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | 0.LDK-V Sonstige Anträge und Resolutionen |
Antragsteller*in: | LAG Wissenschaft, Hochschule, Technologiepolitik (dort beschlossen am: 07.11.2024) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 08.11.2024, 17:04 |
LDK-V10: Freie Wissenschaft für eine freie Gesellschaft
Antragstext
Baden-Württemberg ist ein Wissenschaftsland. Unser Land profitiert in höchstem
Maße von Hochschulen und weiteren wissenschaftlichen Einrichtungen, die
Arbeitgeber für viele neugierige, nach Erkenntnis strebende Menschen sind.
Wissenschaftler*innen stellen ihre Erkenntnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung
und ermöglichen so eine sachorientierte Diskussion und Meinungsbildung zu
gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Sie tragen zur Entwicklung
technologischer Innovationen und damit zur Stärkung unserer Wirtschaft bei. Sie
erweitern über das Knüpfen internationaler Verbindungen kulturelle Horizonte und
bilden Menschen für ihr Berufsleben und Wirken als mündige Bürger*innen in einer
freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaft aus. Sie stellen Bekanntes in
Frage, weisen wo nötig auf Missstände hin und unterbreiten Vorschläge zur
Bewältigung der großen Herausforderungen unserer Zeit.
Um all diese Aufgaben wahrnehmen zu können, müssen Wissenschaftler*innen in
ihrer Arbeit vor Vereinnahmung durch politische und gesellschaftliche Akteure
für deren Eigeninteressen geschützt sein. Die in Artikel 5 des Grundgesetzes
verankerte Wissenschaftsfreiheit steht für uns daher im Zentrum GRÜNER
Wissenschaftspolitik. Wir sind davon überzeugt: Eine freie Gesellschaft braucht
eine freie Wissenschaft und eine freie Wissenschaft braucht eine freie
Gesellschaft.Im Folgenden legen wir dar, wie wir gute Politik für freie
Wissenschaft gestalten und damit sicherstellen, dass eine freie Wissenschaft
auch in Zukunft gute Politik ermöglicht.
Wissenschaft in ihrer erkenntnisgebenden Funktion ist für politische
Entscheidungsprozesse von zentraler Bedeutung: Sie tritt hier beratend auf und
ermöglicht eine evidenzbasierte Entscheidungsfindung. Wie wichtig dies ist,
sehen wir z. B. in der Klima- und Gesundheitspolitik. Politik ist also auf ein
funktionierendes Wissenschaftssystem angewiesen, um demokratische Prozesse auf
eine solide Informationsgrundlage stellen zu können.
Andersherum ist das Wissenschaftssystem selbst auf verlässliche Politik, genau
genommen verlässliche Wissenschaftspolitik, angewiesen: Die Wissenschaft braucht
die Politik als Garantin für Wissenschaftsfreiheit. Wissenschaftspolitik
fungiert daher in erster Linie als Strukturwächterin. Sie schützt und stärkt
über das Gestalten entsprechender Rahmenbedingungen die freie Forschungs- und
Lehrtätigkeit, die Unabhängigkeit von Wissenschaftler*innen in der Wahl von
Methoden und Forschungsfragen sowie ihre Unabhängigkeit in Personalfragen (z. B.
im Besetzen von Professuren). Politik stellt sicher, dass Wissenschaft mit
genügend finanziellen Mitteln langfristig und planungssicher ausgestattet wird,
um ihr ein unabhängiges Agieren auch von Akteuren aus Wirtschaft und
Gesellschaft zu ermöglichen. Außerdem schafft Politik gesetzliche
Rahmenbedingungen, welche Wissenschaftler*innen auf individueller Ebene vor
Einschränkungen der freien Ausübung ihrer Tätigkeit durch Diskriminierung
schützen.
Wissenschaft und Politik sind in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen
unterschiedlichen Grundprinzipien verpflichtet. Dies hat Folgen für das
Verhältnis von Wissenschaft und Politik zueinander. Wissenschaft strebt nach
Erkenntnisgewinn und kann dabei nicht politischem Interessensausgleich, sondern
muss methodischen Standards verpflichtet sein. Entsprechend entscheiden allein
wissenschaftliche Expert*innen über Fördermittelvergabe, wissenschaftliches
Personal oder die Bewertung wissenschaftlicher Arbeiten.
Politik hingegen funktioniert nach demokratischen Prinzipien und muss auf
politischen Interessensausgleich zwischen einer Vielzahl gesellschaftlicher
Akteure hinarbeiten. Diese Ausrichtung politischer Gestaltungsmacht an
demokratischen Prinzipien zeigt Wissenschaftler*innen auch Grenzen auf:
Entscheidungen darüber, wohin eine Gesellschaft sich entwickelt und welche
Maßnahmen sie ergreift, um einen Entwicklungspfad einzuschlagen, müssen in
demokratischen Prozessen getroffen werden. Wissenschaft verfügt über keine
entsprechende Entscheidungs- und Gestaltungsbefugnis. Gute Politik sorgt jedoch
dafür, dass von der Wissenschaft zur Verfügung gestellte Erkenntnisse in
demokratische Prozesse Eingang finden und so eine Evidenzbasierung politischer
Entscheidungsfindung ermöglichen. Die Politik kann also ihre Verantwortung nicht
an die Wissenschaft abgeben, sondern muss auf Grundlage wissenschaftlicher
Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen Optionen abwägen und dann in
demokratisch organisierten Prozessen Entscheidungen treffen.
Wissenschaft ist Innovationstreiber und damit nicht nur Motor unserer
Wirtschaft, sondern auch und insbesondere der Ort, an welchem Lösungen für die
vor uns liegenden Transformationsaufgaben entstehen. Ohne unabhängige
Grundlagen- und Anwendungsforschung sowie forschungsnahe Lehre würden wichtige
Impulse, die sich später beispielsweise in marktfähige Produkte für eine
klimaneutrale Gesellschaft entwickeln, fehlen. Entsprechend sorgt der
Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg mit seiner besonderen
Innovationskraft über Ländergrenzen hinweg für langfristige
Entwicklungsperspektiven in der Transformation. Deren Chancen und Risiken wie
auch die Beforschung sozialer Fragen stehen ebenfalls im Zentrum
wissenschaftlicher Tätigkeit. Die Stabilität freiheitlich-demokratisch
verfasster Gesellschaften kann nur gewährleistet werden, wenn wir einen Weg zur
Klimaneutralität aufzeigen, der auch wirtschaftliche Perspektiven und Sicherheit
bietet.
Deswegen setzen wir auf neue Technologien und Ideen aus der Wissenschaft und
stehen dabei zu unserer Verantwortung als politische Partei, Lösungen für
Probleme auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse nicht in eine ungewisse
Zukunft zu verschieben, sondern bereits heute anzupacken. Politik wird nur dann
ihrer Verantwortung gerecht, wenn sie wissenschaftliche Erkenntnisse
unterschiedlicher Disziplinen, z. B. über den Klimawandel, ernst nimmt und auf
dieser Grundlage Entscheidungen trifft. Gleichzeitig muss Politik damit umgehen,
dass wissenschaftliche Erkenntnisprozesse langwierig und immer mit der
Möglichkeit verbunden sind, dass neue Erkenntnisse eine Revidierung vormaliger
Wissensstände – und damit auch vormaliger Entscheidungsgrundlagen – bedeuten
können. Hinter diesen Ungewissheiten wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung darf
sich Politik jedoch nicht verstecken. Drängende politische Entscheidungen dürfen
nicht aufgeschoben werden, nur weil grundsätzlich die Möglichkeit besteht, dass
die Wissenschaft zu neuen Erkenntnissen kommt. Politik muss Entscheidungen mutig
angehen.
Nachhaltige Entwicklung ist Kernthema GRÜNER Politik. Gleichzeitig sind wir auch
und insbesondere in diesem Kontext angehalten, die Grenzen inhaltlicher
Einflussnahme durch uns als politischen Akteur auf das Forschungsgeschehen im
Land zu wahren. GRÜNE Wissenschaftspolitik für nachhaltige Entwicklung bedeutet
keine Steuerung über detaillierte Vorgaben, wie Forschung zu
Nachhaltigkeitsthemen auszusehen hat. Stattdessen vertrauen wir auf die
Eigendynamiken, die ein freies Wissenschaftssystem auszeichnen: Die
Notwendigkeit zur Beforschung von Nachhaltigkeitsfragen ergibt sich bereits aus
Forschungsergebnissen zum Zustand unserer Welt selbst. Wissenschaftler*innen
streben bereits von sich aus den Angang entsprechender transformationsrelevanter
Fragen über Disziplinen hinweg an. Je mehr Freiheiten wir Wissenschaftler*innen
auf der Suche nach Antworten auf die großen Nachhaltigkeitsfragen unserer Zeit
lassen, umso größer ist die Chance, dass neue Entwicklungen mit durchschlagender
Wirkung auf den Weg gebracht werden. In der Programmförderung zur finanziellen
Ausstattung nachhaltigkeitsbezogener Forschungsprojekte setzen wir daher auf
möglichst breite und offene Themensetzung. Zu detaillierte Vorgaben seitens
Politik und Verwaltung laufen Gefahr, den Erkenntniskorridor zu früh zu stark
einzuengen und so aktuell nicht vorhersehbare, aber potenziell wirkmächtige
Erkenntnisse und Entwicklungen zu verhindern. Auch und insbesondere die freie
Grundlagenforschung zu Themen, deren Nachhaltigkeitsbezug auf den ersten Blick
nicht erkennbar scheint, muss daher im Sinne der Wissenschaftspolitik für
nachhaltige Entwicklung finanziell stark ausgestattet bleiben.
Universitäten, Hochschulen und weitere wissenschaftliche Einrichtungen sind
nicht nur Forschungseinrichtungen im engeren Sinne, sondern auch wichtige
öffentliche Diskursräume, in denen Bedingungen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens verhandelt werden. Gerade in Zeiten zunehmender Polarisierung
gesellschaftlicher Debatten ist eine freie Gesellschaft auf die Wissenschaft als
einen für unterschiedliche Akteure zugänglichen und zugleich sachlich-rationalen
Diskursraum angewiesen. Auch kontroverse Themen und Fragen sowie möglicherweise
zu verwerfende Positionen müssen Eingang in diesen Raum finden können, um
konstruktiv erörtert und überhaupt auf Stichhaltigkeit ihrer Argumente überprüft
werden zu können. Wissenschaftliche Einrichtungen sind diejenigen Orte unserer
Gesellschaft, an welchen das Aushalten von und der konstruktive Umgang mit
Meinungsvielfalt zu gesellschaftspolitisch schwierigen Fragestellungen gemeinsam
eingeübt werden kann.
Protestaktionen, die ihren Ursprung in gesellschaftspolitischen
Auseinandersetzungen haben, sind ebenfalls als Teil des breiteren,
gesellschaftsoffenen Diskurses an wissenschaftlichen Einrichtungen zu verstehen.
Sie müssen als solche zugelassen werden, so lange sie den wissenschaftlichen
Betrieb nicht beeinträchtigen und Grenzen der Meinungsfreiheit eingehalten
werden. Protestformen, welche die Grenzen der Meinungsfreiheit überschreiten,
Bedrohungen aussprechen, zu Gewalt aufrufen oder sie gar einsetzen, müssen
entschieden unterbunden und entsprechend tätige Personen verfolgt werden. Gewalt
ist niemals Mittel der freien Meinungsäußerung und kein demokratischer Protest.
Wir stellen uns schützend vor die Wissenschaft als offenen Diskursraum. Weder
Politik noch andere gesellschaftliche Institutionen dürfen versuchen, diesen
offenen Diskursraum über Druck auf wissenschaftliche Einrichtungen
einzuschränken. Insbesondere wollen wir Hochschulen weiterhin und verstärkt
dabei unterstützen, wirksame Schutzvorkehrungen zu entwickeln und zu etablieren,
die diskriminierende und damit diskursausschließende Angriffe auf Menschen, die
sich in diesem Diskursraum bewegen oder bewegen wollen, abwehren. Dies betrifft
insbesondere, aber nicht nur, Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft,
Religionszugehörigkeit, Nationalität, Ethnie, Geschlecht, sexueller Orientierung
oder gesundheitlicher Beeinträchtigung. So lange sich Äußerungen im Rahmen der
Meinungsfreiheit bewegen, sind Ausschlüsse aufgrund bestimmter politischer
Positionen ebenfalls unzulässig. Gleichzeitig darf dieser offene Diskursraum
nicht missbraucht werden, insbesondere nicht, um Einschränkungen des Diskurses
und des wissenschaftlichen Austausches zu erwirken.
Auch für Wissenschaftler*innen in Qualifikationsphasen gilt: Die
Wahrscheinlichkeit, wertvolle oder sogar bahnbrechende Erkenntnisse zu erlangen,
steigt mit dem Grad an Unabhängigkeit und Freiheit im Forschungsprozess.
Aufgrund befristeter Arbeitsverhältnisse mit oftmals kurzen Vertragslaufzeiten
forschen Nachwuchswissenschaftler*innen jedoch in besonders starker Abhängigkeit
von denjenigen Personen, die in sehr kurzen Zeitabständen wiederholt über ihren
Verbleib im Wissenschaftssystem entscheiden. Diese Abhängigkeit hemmt
Risikobereitschaft im Angang von Forschungsfragen und damit das
Innovationspotenzial unseres Wissenschaftssystems. Das neu zu gestaltende
Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf Bundesebene soll hier stellenweise
Verbesserungen bringen, wird aber nicht alle Probleme lösen können. Hier sind
die Länder gefragt, innerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches tätig zu werden.
Dieser Aufgabe wollen wir uns in Baden-Württemberg annehmen und
Forschungseinrichtungen dabei unterstützen, neue Konzepte zu entwickeln, um
Wissenschaftler*innen in frühen Karrierephasen mehr Sicherheit und Freiheit in
der Gestaltung ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu ermöglichen. Wir setzen uns
dabei auch für eine Verbesserung der finanziellen Ausstattung für
Nachwuchswissenschaftler*innen und eine Stärkung ihrer Stimme in der
akademischen Selbstverwaltung ein.
Orientiert am grundgesetzlich verankerten Prinzip der Wissenschaftsfreiheit hat
GRÜNE Wissenschaftspolitik unser Land Baden-Württemberg über drei
Legislaturperioden hinweg stark gemacht. Mit dem festen Vertrauen auf
Wissenschaftsfreiheit als Leitprinzip treten wir für eine Zukunft ein, in der
Politik Entscheidungen evidenzbasiert treffen kann, in der technologischer
Fortschritt zur schnellstmöglichen Realisierung einer klimaneutralen
Gesellschaft beiträgt und in der demokratischer Diskurs unsere offene
Gesellschaft schützt und bereichert. Auch in Zukunft verteidigen wir die
Wissenschaftsfreiheit entschieden gegen Angriffe – denn mit der Freiheit unserer
Wissenschaft verteidigen wir auch die Freiheit und Zukunft unserer Gesellschaft.
Begründung
Zunehmend ist zu beobachten, dass politische wie gesellschaftliche Akteure Prinzipien der grundgesetzlich verankerten Wissenschaftsfreiheit in Frage stellen oder missachten. Dies gefährdet eine tragende Säule unserer freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaft und das Vorankommen auf dem Weg in eine klimaneutrale Gesellschaft. In diesem Antrag halten wir unmissverständlich fest: Mit GRÜNER Wissenschaftspolitik waren, sind und blieben wir der Wissenschaft eine verlässliche Partnerin und stellen uns schützend vor die Wissenschaftsfreiheit.