Veranstaltung: | Parteitage in Reutlingen am 7. und 8. Dezember 2024 |
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Tagesordnungspunkt: | 0.LDK-V Sonstige Anträge und Resolutionen |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 08.12.2024 |
Antragshistorie: | Version 2 |
Freiheit sichern – mehr Pragmatismus wagen!
Beschlusstext
Ein Leben in Freiheit – heute, morgen und übermorgen. Für uns und die
zukünftigen Generationen. Das möchten wir erreichen und sichern; dafür setzen
wir uns ein.
Ein Leben in Freiheit ist voraussetzungsvoll.
Es setzt
- funktionierende öffentliche Institutionen und Infrastruktur,
- eine starke und innovative Wirtschaft,
- funktionierende Ökosysteme, hohe Biodiversität und ein stabiles
Globalklima,
- funktionierende Daseinsvorsorge und soziale Sicherung sowie
- ein funktionierendes System der inneren und äußeren Sicherheit auf
nationaler und europäischer Ebene
voraus.
Diese Voraussetzungen sind vor allem durch die Klimakrise, das rasante
Artensterben, die veränderte Sicherheitslage in Europa und der Welt sowie
Veränderungen auf der weltwirtschaftlichen Ebene (Veränderungen der Bedeutung
und der Beziehungen zwischen den Wirtschaftsblöcken, Veränderung internationaler
Handels- und Finanzbeziehungen, partielle Rückkehr zum Protektionismus) unter
großen Druck geraten und gefährdet.
Wir fordern, dass die Sicherung der Freiheit – für uns und für die zukünftigen
Generationen – durch die Sicherung ihrer Voraussetzungen zur Leitlinie
politischer Entscheidungen wird. Und dass die notwendigen Anpassungen, die auch
erhebliche Investitionen verlangen, durch pragmatisches und entschlossenes
politisches Handeln umgesetzt werden.
Wir fordern daher, auf drei Ebenen mehr Pragmatismus zu wagen:
Auf der regulatorischen Ebene sind die Rahmenbedingungen an einem
funktionierenden Ökosystem, hoher Biodiversität und an einer Stabilisierung des
Globalklimas auszurichten. Staatliche Regulierungen sind außerdem so
auszugestalten, dass die Institutionen der öffentlichen Hand rasch und
reibungslos funktionieren und die öffentliche Daseinsvorsorge, soziale
Sicherheit, innere und äußere Sicherheit, eine funktionierende öffentliche
Infrastruktur sowie eine prosperierende privatwirtschaftliche Wertschöpfung
gewährleistet werden können.
Auf der organisatorischen Ebene sind einfachere, schnellere und digitalisierte
Prozesse und die Bündelung staatlicher Leistungen – orientiert an Effizienz,
Zielgenauigkeit und Bürgernähe – anzustreben. Nicht jeder Einzelfall und nicht
alles soll bis ins kleinste Detail vorgegeben werden, um den administrativen
Aufwand, der viele Ressourcen bindet, für alle Beteiligten zu reduzieren. Wir
wollen wieder stärker vertrauen – den Mitarbeitenden in den Einrichtungen der
öffentlichen Hand, in privatwirtschaftlichen Unternehmen und in Organisationen
der Zivilgesellschaft. Auch den Menschen in unserem Land, den Bürgerinnen und
Bürgern. Freiheit beruht auf Regeln und auf Vertrauen!
Auf der finanziellen Ebene benötigen Bund, Länder und Gemeinden größere
finanzpolitische Handlungsspielräume, damit die erforderlichen Anpassungen
gelingen und die anstehenden Aufgaben bewältigt werden können. Insbesondere, um
die erforderlichen Investitionen vorzunehmen, die in den vergangenen Jahren und
Jahrzehnten nicht erfolgt sind. Während im europäischen Durchschnitt seit 2000
jährlich rund 3,7% des BIP für staatliche Investitionen aufgewendet wurden,
waren es in Deutschland durchschnittlich 2,1% pro Jahr.[i] Wir haben in
Deutschland zu lange von der Substanz gelebt und die Folgen des
Investitionsstaus sind für uns alle deutlich sichtbar und spürbar!
Öffentliche Haushalte stärken – Schuldenbremse reformieren;
neue investitions- und zukunftsorientierte Haushaltsregeln
definieren
Die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form erlaubt dem Bund nur eine sehr geringe
Verschuldung unabhängig von der wirtschaftlichen Lage (0,35% des BIP, Artikel
115 GG). Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15.11.2023 hat den
finanzpolitischen Spielraum des Bundes zudem weiter deutlich eingeschränkt, da
zuvor gängige Praktiken der Haushaltsführung nun nicht mehr möglich sind.
Insbesondere die vielfach kritisierte strenge Auslegung des Prinzipes der
Jährlichkeit engt den haushalterischen Spielraum deutlich ein und verhindert
eine nachhaltige Finanzpolitik, deren Haushaltspraxis und
Investitionsentscheidungen ja gerade eine mehrjährige Perspektive voraussetzen.
Auch das Land Baden-Württemberg hat laut Landesverfassung außerhalb von Notlagen
nur sehr begrenzte Möglichkeiten sich zu verschulden.
Wir fordern die Reform der bestehenden Schuldenbremse und die Definition neuer
Haushaltsregeln für unser Land. Mit dieser Forderung sind wir nicht alleine: Der
IWF, die OECD, der Sachverständigenrat und viele renommierte
Wirtschaftsforschungsinstitute fordern ebenfalls eine Reform und es liegen
konkrete Reformvorschläge vor.
Zusätzliche kreditfinanzierte Ausgaben der öffentlichen Hand sollen zukunfts-
und investitionsorientiert sein; wir brauchen mehr öffentliche und private
Investitionen. Neue, daran orientierte Haushaltsregeln ermöglichen einerseits
zukunftsorientierte staatliche Investitionen[ii], die durch die Schuldenbremse
in ihrer Wirkung als „Investitionsbremse“ bislang verhindert wurden. Sie
ermöglichen andererseits, gezielt private Investitionen in Industrie, Handel und
Handwerk zu fördern, die erforderlich sind, um den Transformationsprozess zu
bewältigen – auch in mittelständischen Unternehmen, die für den
Wirtschaftsstandort Deutschland von großer Bedeutung sind. In der
Privatwirtschaft werden Leistungen erbracht, die außerhalb der staatlichen
Kernaufgaben liegen, aber ebenfalls für die Versorgung der Menschen bedeutend
sind. Ihre Wertschöpfung ist die Grundlage für unseren Wohlstand und sichert die
wirtschaftliche Stabilität des Landes.
Ergänzend besteht auch im Rahmen der gegenwärtigen Schuldenbremse die
Möglichkeit, öffentliche Unternehmen mit Kapital (Eigen- oder Fremdkapital)
auszustatten, um konkrete Investitionsprojekte – insbesondere
Infrastrukturprojekte – haushaltsneutral zu finanzieren (sogenannte
Finanztransaktionskomponente). Auf der Bundesebene ist dies jüngst erneut bei
der DB InfraGo geschehen. Diese Möglichkeit hat auch das Land Baden-Württemberg.
Aktuell ist im Regierungsentwurf für den Doppelhaushalt 2025/26 vorgesehen, eine
Kapitalerhöhung von bis zu 3 Mrd. bei der EnBW zu ermöglichen, um kraftvoll in
bezahlbare und sichere Energieinfrastruktur zu investieren.
Wir fordern, dass bei dringenden Investitionsvorhaben diese
Finanzierungsmöglichkeit auf der Bundes- und Landesebene geprüft wird, wobei die
Folgekosten für die Instandhaltung der geschaffenen Infrastruktur bei der
Berechnung der Finanzbedarfe berücksichtigt werden. Diese Möglichkeit, bereits
jetzt konkrete Infrastrukturprojekte haushaltsneutral zu finanzieren, steht der
notwendigen Reform der Schuldenbremse nicht entgegen, sondern trägt ergänzend
zur Stärkung der öffentlichen Haushalte bei.
Auch eine Überprüfung bestehender Ausgaben und der Ausgabenstruktur auf allen
Ebenen halten wir für erforderlich; sie ist absolut zu befürworten. Bei einer
Überprüfung bestehender Ausgaben darf es nicht primär um Kürzungen im sozialen
Bereich gehen: Sozialausgaben und notwendige Investitionen sollen nicht
gegeneinander ausgespielt werden. Außerdem ist es die Aufgabe einer nachhaltigen
Finanzpolitik, auch bestehende Subventionen zu hinterfragen und wenn nötig zu
streichen.
Finanzpolitik ist kein Selbstzweck; der Einsatz öffentlicher Mittel dient dazu,
die ökologischen, institutionellen, infrastrukturellen, sozialen,
sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen unserer Freiheit zu
sichern. Wir können dabei heute bereits erkennen, dass die Kosten
erforderlicher, aber unterlassener Investitionen deutlich gestiegen sind und
weiter steigen werden. Wir wollen diese Hypothek der nachholenden Bewältigung
erforderlicher Aufgaben nicht den zukünftigen Generationen aufbürden.
Einrichtung eines Investitions- und Zukunftsfonds für Bund,
Länder und Kommunen
Der Think Tank „Dezernat Zukunft“ beispielsweise beziffert den zusätzlichen
Finanzbedarf aller Gebietskörperschaften in Deutschland für den Zeitraum 2025
bis 2030 in den Bereichen Bildung, Dekarbonisierung, Digitalisierung, Forschung,
Gesundheit, Verkehr, Wohnen, innere Sicherheit, Klimaanpassung, wirtschaftliche
Resilienz, Verteidigung und sonstige äußere Sicherheit auf rund 780 Mrd. Euro –
darunter ca. 420 Mrd. Euro für Investitionen (Erhalt und Neuinvestitionen). Ohne
Berücksichtigung der Kosten für die Dekarbonisierung geht der BDI von einem
Finanzbedarf von knapp 380 Mrd. Euro aus; IMK/IW sprechen von einem Finanzbedarf
in Höhe von gut 580 Mrd. Euro. Der Finanzbedarf insgesamt besteht laut Dezernat
Zukunft zu ca. 50% auf der Ebene des Bundes, zu ca. 20% auf der Ebene der
Bundesländer und zu ca. 30% auf der Ebene der Kommunen.[iii] Und auch auf der
europäischen Ebene wächst das Bewusstsein dafür, dass mehr getan werden muss.
Mario Draghi hat in seinem Bericht aufgezeigt, dass die Europäische Union ca.
800 Mrd. Euro jährlich investieren müsste, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu
sichern. Die europäischen Fiskalregeln stehen in vielen Ländern den
erforderlichen Investitionen entgegen [iv].
Wir fordern, dass die Reform der Schuldenbremse auf Bundesebene auch die
finanziellen Spielräume der Länder und Kommunen berücksichtigt und erweitert:
Durch die Einrichtung eines Zukunfts- und Investitionsfonds (Deutschland-
Investitionsfonds) auf Bundesebene sollen dem Bund, den Ländern und den Kommunen
Mittel für notwendige Investitionen zur Verfügung gestellt werden. Unsere
Forderung korrespondiert mit dem Vorschlag der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN, die in Leipzig einen vielversprechenden Beschluss „Für einen
wirtschaftlichen Aufbruch und ein modernes Land, das einfach funktioniert“
vorgelegt hat.[iv] Der Fonds soll aus Mitteln, die durch die Reform der
Schuldenbremse freigesetzt werden, finanziert werden. Sowohl der Umfang des
Zukunfts- und Investitionsfonds als auch die Verteilung der eingestellten Mittel
auf die Gebietskörperschaften sollen unter Einbeziehung aller staatlichen Ebenen
festgelegt werden.
Die Behebung des Investitionsstaus fordert alle Gebietskörperschaften heraus.
Bund, Länder und Gemeinden – auch uns in Baden-Württemberg. Obwohl wir unter
grüner Führung und einem grün geführten Finanzministerium in den vergangenen
Jahren eine solide, nachhaltige und zukunftssichere Finanzpolitik gemacht haben:
die Spielräume werden auch in unserem Bundesland kleiner. Alleine der Erhalt der
bestehenden Infrastruktur wird mit hohen Ausgaben verbunden sein. Und im Bereich
der Bildung haben wir einiges vor. In Baden-Württemberg sollen Mittel aus dem
Investitions- und Zukunftsfonds, der im Rahmen neuer Haushaltsregeln auf
Bundesebene geschaffen wird, gezielt für Investitionen in Klimaschutz und
Klimaanpassung, ökologische Modernisierung und Resilienz, moderne physische und
digitale Infrastruktur im Bereich von Bildung und Forschung bereitgestellt
werden.
Neue Haushaltsregeln sind eine wesentliche Voraussetzung, um auch den
zukünftigen Generationen ein Leben in Freiheit und Wohlstand in einem modernen,
funktionierenden und zukunftsfähigen Baden-Württemberg zu ermöglichen. Sie sind
eine wesentliche Voraussetzung für eine Zukunft in Freiheit und Wohlstand in
Deutschland und – aufgrund der Stellung Deutschlands in Europa – auch in
Europa.[v]
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[ii] Unter Investitionen verstehen wir Ausgaben, die im Kapitalstock des Staates
bzw. der jeweiligen Gebietskörperschaft die Vermögenswerte erhöhen.
Investitionen schaffen Vermögen.
[iii]https://dezernatzukunft.org/was-kostet-eine-sichere-lebenswerte-und-
nachhaltige-zukunft/
[iv] Ein Aspekt davon ist, dass ausschließlich die Bruttoschulden eines Landes
zur Bewertung herangezogen werden. Dies steht im Widerspruch zur deutschen
Schuldenbremse, bei der eine Bereinigung um finanzielle Transaktionen
stattfindet, bevor die Vorgaben zur Kreditaufnahme abgesteckt werden. Wir
plädieren dafür, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass die
europäischen Fiskalregeln von der Bruttobetrachtung zur Nettoschuldenbetrachtung
übergehen, bei der nur jene Schulden berücksichtigt werden, denen keine
staatlichen Vermögenswerte gegenüberstehen. Damit würden viele europäische
Länder die Möglichkeit bekommen, die Investitionen zu tätigen, die erforderlich
sind, um Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Freiheit in der EU zu sichern. In
Ländern wie dem Vereinigten Königreich oder Neuseeland ist diese
Nettoschuldenquote bereits ein zentraler Indikator, der auch von Eurostat und
dem IWF verwendet wird.
[v] Über die Forderung neuer Kreditregeln in Deutschland hinausgehend: Mario
Draghi hat in seinem Report den Bedarf an Investitionen in der Europäischen
Union – ca. 800 Mrd. jährlich – zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der EU
aufgezeigt. Die europäischen Fiskalregeln stehen in vielen Ländern den
erforderlichen Investitionen entgegen. Wir plädieren dafür, die europäischen
Fiskalregeln von der Bruttobetrachtung zur Nettoschuldenbetrachtung, bei der nur
jene Schulden berücksichtigt werden, denen keine staatlichen Vermögenswerte
gegenüberstehen, umzustellen. Damit würden viele europäische Länder die
Möglichkeit bekommen, die Investitionen zu tätigen, die erforderlich sind, um
Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Freiheit in der EU zu sichern. In Ländern
wie dem Vereinigten Königreich oder Neuseeland ist diese Nettoquote bereits ein
zentraler Indikator, der auch von Eurostat und dem IWF verwendet wird.